für Bruno Jaeggi
Hiroshi Shimizu
(1903-1966) war ein Zeitgenosse von Ozu und Naruse
163 Filme
soll er gedreht haben - und nicht einmal 30 davon sind erhalten. Eine
vollständige Filmografie scheint überhaupt nicht zu existieren.
.
Dass er neben Ozu, Gosho, Naruse oder Shimazu zu den Wegbereitern
des shomingeki-Films gehörte ist bekannt. Dass er aber darüber
hinaus zu den ganz großen Regisseuren des Japanischen Kinos gehört,
davon konnte man sich während der Berliner Retrospektive
überzeugen.
.
Er hat Kinder geliebt.
Man sagt, er haßte
es, im Studio zu arbeiten und liebte Dreharbeiten unter freiem
Himmel. Das kann man spüren in Arigato-san (1936), dem schönsten
Road Movie der Filmgeschichte, in Kaze no nake no kodomo (Kinder im
Wind, 1937) oder in Kanzashi (Ornamental Hairpin, 1941). Durch
Shimizus Filme lernt man japanische Landschaften und besonders die
schmalen, sich oft durch Gebirge schlängelnden Landstraßen
kennen.
Man wird sich ein Leben lang an sie erinnern.
Sie sind
so präsent und erscheinen dabei so wunderschön wie ein Traum.
.
Das japanische Kino der dreissiger Jahre muß wohl die größte
Epoche der Filmgeschichte gewesen sein - und nicht nur durch die
Filme von Ozu und Mizoguchi .Es waren vor allem die shomingeki-
Filme, die so wahrhaftige Bilder von Menschen und Landschaften
geschaffen haben, die aus heutiger Sicht ein genaues erhellendes Bild
der sozialen Lebensbedingungen von Menschen jener Zeit präsentieren.
Man muß einige dieser Filme mit ihrer tiefen Liebe für die kleinen
Leute gesehen haben, um zu verstehen, daß der shomingeki-Film fast
natürlicherweise wie eine ästhetische Gegenbewegung zum
aufkommenden japanischen Faschismus erscheint. Was auch kein Wunder
wäre, erzählen diese Filme doch vor allem von denen, die im Krieg -
in welchem Land auch immer - die ersten Opfer werden. So ist es
für mich nur schwer vorstellbar, daß sich auch Shimizu manchmal zu
Propagandafilmen überreden ließ.
Shimizus Figuren sind
meistens Kinder oder entwurzelte Erwachsene, die keinen richtigen
Platz in der Gesellschaft haben; die zu dieser Zeit bereits
stigmatisierten bitterarmen Koreaner, Töchter, die an Fabriken
verkauft werden oder in die Prostitution gezwungen werden, ruinierte
Geschäftsleute wie in Arigato-san, die vielen Waisen in seinen
Nachkriegsfilmen, der ruinierte Grundbesitzer, der sich jeder
kapitalistischen Logik verweigert in Ohara Shosuke-san oder die
alleinstehende Mutter in Bojo, die versucht ihre unehelichen Kinder
irgendwo unterzubringen. Wenn es so etwas wie die Hymne Shimizus für
die Außenseiter und Kinder gleichermaßen gibt, dann in seinem
späten Meisterwerk Shino mi gauken (Die Shinomi Schule1955), das von
an Polio erkrankten Kindern handelt.
Wie Ozu und die anderen
großen Regisseure des shomingeki-Films gehörte auch Shimizu zu den
experimentierfreudigen jungen Filmemachern. Ohne ein nachgewiesenes
Manifest, allein durch ihre Filme realisiert, verwirklichte jeder
dieser Regisseure seine Vorstellung von Film auf unterschiedliche
Weise. Mehr noch als Mizoguchi war Shimizu berühmt für seine langen
Einstellungen, die selten starr waren und oft in langen fließenden
Kamerabewegungen aufgenommen wurden. Wie Ozu, spielte er zunächst
auch mit verschiedenen technischen Möglichkeiten wie etwa den
Jump-cuts, die Menschen einfach verschwinden lassen. Da gibt es in
Kaze no nakano kodomo (Kinder im Wind) eine kleine Szene, in der sich
ein Junge vor seinen Hausaufgaben drücken will ohne daß es die
Mutter bemerkt. Hier benutzt Shimizu die Kamera noch gelegentlich als
Zauberkiste und läßt das Kind im wahrsten Sinne des Wortes aus dem
Bild verschwinden. Vielleicht ist es diese Verspieltheit der jungen
japanischen Regisseure jener Zeit - die sich in schwindelerregend
kurzer Zeit alles angeeignet hatten, was das Kino bietet - die ihren
Filmen eine Frische verleiht, die lediglich durch die schlechte
Konservierung ihres erhaltenen Materials getrübt wird. Sie mögen in
verschiedene Richtungen gegangen sein, Ozu, Naruse oder Shimizu. Was
für Ozu die statische Bildkomposition ist, war für Shimizu die
bewegte Kamera. Was sie aber gemein haben ist ihre Vorliebe für
episodenhafte Erzählungen, die sich niemals einem straffen plot
unterordnen. Das ist eine Art zu erzählen, die es fast
ausschließlich im asiatischen und besonders im japanischen Film
gibt.
Warum erscheinen die meisten dieser Geschichten eher wie
von selbst entstanden als erzählt worden zu sein?
Shimizus
Leidenschaft für die offene Landschaft findet sich wieder in der
offenen Erzählstruktur seiner Filme. Er schien die Freiheit der
Wälder, Flüsse und Wasserfälle wie ein Wesen zu atmen, daß sich
als Teil der Natur begreift. Die Filme haben etwas schwereloses wie
die Kamerafahrten durch die wunderbaren japanischen Landschaften. In Anma To Onna (Zwei Masseure und eine Frau, 1938) laufen zwei
blinde Masseure auf dem Weg zu ihrem neuen Arbeitsort auf einer
endlos gewundenen Landstraße. Wir sehen das aus der Perspektive
einer langsamen Rückfahrt, in einem immer gleichmäßigen Abstand zu
den Personen. Die umliegende Wald und Gebirgslandschaft erfährt man
im wahrsten Sinne des Wortes. Diese ersten paar Minuten des Films
reichen vollkommen aus, ihn ein Leben lang nicht mehr zu vergessen.
In Arigato-san findet der größte Teil der Handlung in einem Bus
statt. Die Landschaft, die an unserem Auge vorbeizieht ist so
spürbar, als habe man sie selbst durchfahren. Die heißen
Quellen, der Fluß mit der langen Holzbrücke und die Wälder in
Kanzashi sind allgegenwärtig. Die Menschen, die sich hier oder wie
in vielen anderen Filmen Shimizus treffen, tun dies meist zufällig.
Das mag Teil von Shimizus Improvisationstechnik sein, der lieber mit
Arbeitsnnotizen als mit fertigen Drehbüchern gearbeitet hat. Wie
sich aber diese Episoden und Bilder zu einem dichten Traum verdichtet
haben, weiß ich wirklich nicht.
Ich nehme es als ein Wunder des
Kinos hin.
Warum erinnern mich diese Filme an ein Fleckchen Natur,
in dem ich als spielendes Kind mit meiner Imagination Geschichten
gesponnen habe? Vielleicht ist das eine Spur der Faszination, die
Shmizu auf mich ausübt. Hier darf ich wieder Kind sein, solange
dieser Film dauert. Ist Chishu Ryu in Kanzashi nicht auch ein
großes Kind wie Shosuke Ohara in Ohara Shosuke-san oder die
Masseure in Anma To Onna? Mögen unter den Fahrgästen in
Arigato-san von der Wirtschaftskrise arg gebeutelte alte und junge,
freundliche und mürrische Menschen sein - Während dieser Fahrt hat
der Film etwas von einer Schulklassenfahrt. In dem Bus sind sie für
einen Moment geborgen wie in einem Kino.
Wer ist dann das
koreanische Mädchen, daß sich keine Fahrkarte leisten kann? Ist
sie das Mädchen, mit dem man nicht spielen darf? Das ist ein
Hinweis auf das Japan jener Zeit, in der der Film gemacht ist, der
wie eine kalte Dusche wirkt. Der Fahrer (und vermtlich auch Shimizu
hätten das koreanische Mädchen, das auf der Suche nach Arbeit von
Straßenbaustelle zu Straßenbaustelle wandert, gerne mitgenommen.
Gerne hätten sie sie integriert in die Geborgenbheit des Busses, der
auch ein Stück Welt ist. Doch sie zieht als Mitglied einer
diskriminierten Minderheit mit ihren Landsleuten weiter. In dieser
Gesellschaft hat sie keinen Platz - und Shimizus Hinweis auf diese
Ausgrenzung ist wohl eines der subversivsten Momente der japanischen
Filmgeschichte.
Nach dem Krieg, als Ozu allmählich begann,
seine formalen Ideen in die Perfektion umzusetzen, scheint als
formaler Aspekt in Shimizus Filmen lediglich die bewegliche Kamera
überlebt zu haben. Es scheint so, daß ihm sein Engagement für die
Kinder wichtiger wurde als seine Filme. Doch auch die Umstände,
unter denen Shimizu nach 1945 weitergearbeitet hatte, erscheinen
wesentlich schwieriger. Einige Filme hat er unabhängig produziert,
andere wurden von kleineren Gesellschaften produziert. Ozu, Naruse
oder Mizoguchi hatten ihre Plätze schnell wieder eingenommen. Sie
hatten ihren „Ort“ gefunden. Shimizus Filme nach dem Krieg
gleichen ein wenig der Unrast seiner umherziehenden, heimatlosen
Figuren. Den „geschützten Bereich“, der einem Ozu die Arbeit an
seinen späten Meisterwerken erst möglich machte, scheint Shimizu
nicht gefunden zu haben. Ähnelt er vielleicht wirklich dem
liebenswerten aber als Grundbesitzer völlig ungeeigneten Ohara in
Ohara Shosuke-san, wie in dem Monatsrogramm des Arsenals zu lesen
war? Auf eine Weise, die ich weder bewerten noch kommentieren
möchte und die mir Shimizu nur noch liebenswerter erscheinen läßt,
scheinen sich seine Filme nach dem Krieg formal nicht mehr
„weiterentwickelt“ zu haben. Am Ende von Ohara Shosuke-san
verläßt Shosuke, der alles verloren hat mit seiner Frau das Dorf.
Sie gehen einen Feldweg neben einem Bahngleis entlang in eine
ungewisse Zukunft. Sie vertrauen sich der Landschaft an. Kein Bus
oder keine Gemeinschaft wie in den alten Meisterwerken Shimizus kann
irgendwelche Garantien bieten. Von diesen vermeintlich formal
schwächeren aber so hingebungsvollen menschlichen Porträts, würde
ich Shi nomi Gauken (1955) als sein spätes Meisterwerk bezeichnen,
was ich gerade bei diesem Film nicht vermutet hätte. Bei diesem Film
hatte ich Bedenken. Kinder und zumal noch kranke Kinder müssen zu
oft herhalten, um Mitleid oder Gefühle zu erzeugen. Ich kann diesen
Film schwer beschreiben, weil seine Magie durch Worte nur sehr schwer
erreicht werden kann. Auf den ersten Blick erscheint der Film nämlich so, wie ich es befürchtet
habe: Ein Vater mit zwei an Kinderlähmung erkrankten Söhnen gründet
eine Schule nur für ihresgleichen, damit diese Kinder vor
Diskriminierung geschützt sind. Und diese Schule ist wie eine Insel,
ein hermetisch nach außen abgeschlossener aber auch geschützter
Bereich. Hier sind die Kinder geborgen. Keiner grenzt sie aus, keiner
äfft sie nach. Alle scheinen furchtbar nett in diesem Film zu sein.
Alles erscheint seltsam idealisiert. Aber da ist etwas im Blick von
Shimizu auf diese Kinder, der so voller Liebe und Zärtlichkeit ist,
wie ich es im Kino eigentlich nur in den Filmen Ozus oder Dang Nhat
Minhs gesehen habe. Ich kann immer wieder nur die eine magische
Szene beschreiben: Kinder und Lehrer machen Picknik am Fluß. Zuerst
versucht die Lehrerin ein krankes und schweigsames Kind zum Singen zu
ermutigen. Langsam stimmt es mit ein. Das Lied wird mehrmals gesungen
bis endlich alle zusammen singen.
Ich habe mir die ganze Zeit
vorgestellt wie Shimizu unmittelbar während der Dreharbeiten
dabeigewesen ist, bilde mir fast ein, seinen Atem zu spüren. Hier
kommt alles zusammen: glückliche Kinder inmitten einer hinreißenden
Flußlandschaft. Diese Szene, stelle ich mir weiter vor, muß so
etwas wie Shimizus Vorstellung vom Paradies gewesen sein.
Am Ende
gehen die Kinder zum Tempel um einem Kind zu gedenken, das gestorben
ist. Zum ersten Mal verlassen sie den geschützten Bereich der
Schule und gehen zum Tempel, um für ihren toten Freund zu beten. Das
ist exakt die letzte Einstellung des Films. Wenige Augenblicke später
wird das Licht angehen und man muß das Kino verlassen, das mir für
eine kurze Zeit selbst wie ein „geschützter Bereich“
erschien.
Nur selten - wirklich sehr selten - habe ich mich im
Kino so beschützt gefühlt
.
Die 12 Filme von Hiroshi Shimizu,
die ich im März sehen konnte, waren seit Ozu das eindrucksvollste,
was ich vom Japanischen Kino gesehen habe. Zur Retrospektive
des Jahres gilt es auch einen ausgezeichneten Aufsatz über Shimizu
zu erwähnen. In einer kleinen Broschüre des Japanischen
Kulturinsituts Köln Notizen eines Vagabunden des lebenden Bildes,
gibt es einen sehr schönen Text von Olav Möller, der wohl
wegbereitend sein wird für die deutsche Shimizu-Rezeption. Und
dieser Text endet mit einem sehr schönen Satz, den man vor dem Sehen
eines Films von Hiroshi Shimizu am liebsten laut vor sich hinsprechen
möchte: "Wenn ein Augenblick in Shimizus Schaffen seine Seele
porträtiert, dann ist es vielleicht jene Szene gegen Ende von
Daibutsu Sama To Kodomotachi, in der sich ein kleiner Junge zum
letzten Mal zum Schlafen in den Schoß einer gewaltigen Buddhastatue
legt - Shimizu ist beides: das Kind, denn eigentlich wollte er nie
erwachsen werden (und ist es mit ein bißchen Glück auch nicht), und
der Buddha, der barmherzig ist und ewig.“ (Olav Möller)
Rüdiger Tomczak /erstveröffentlichung shomingeki Nr. 15, Juli 2004)
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